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  1998 Fluchtspuren, Steyr - Sowietunion - Steyr

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  Aus dem Buch "Fluchtspuren" von Mag. Waltraud und Mag. Georg Neuhauser, 1998
     Steyr, Station 07 - Käthe Hübsch
   
  "Die Gemeinschaft war das Schönste"
   
  Lernjahre im Schatten der Krise
   
  Mein Vater war Eisenbahner und stammte aus Steyr. Durch seinen Beruf lernte er meine Mama, eine Kärntnerin, kennen. Er war Schaffner bei der Bahn, ein eingefleischter Sozialdemokrat. Nach meiner Geburt am 14. Juni 1910 in Kappel an der Drau zogen wir nach Klagenfurt, zwei Jahre später übersiedelten wir nach Garsten bei Steyr. Wir wohnten neben der Kantine in Pyrach. Mein Vater liebte mich unheimlich, mit meinem Bruder war er aber sehr streng und schlug ihn, wenn er nicht recht gehorchte.
  Wir machten viel Musik. Ich lernte sechs Jahre Zither, nahm oft an Konzerten teil und spielte auch Gitarre und Klavier. Zu Hause wurde viel gesungen, weil die Mutter, eine einmalige Frau, musikbegeistert war. Eigentlich gewöhnte sie sich nicht leicht hier ein, sie war ja eine echte Kärnterin. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sie sagte: ”Nudalan essen.” Sie gab ihren Dialekt nie ganz auf.
  An den 1. Weltkrieg erinnere ich mich kaum mehr. Mein Vater, der nie viel zu Hause war, mußte nicht einrücken, er war bei der Bahn ”u.k.” gestellt. Meine Mutter war eine gute Schneiderin. Sie nähte für viele Leute, weil sie dazuverdienen mußte. Sie war oft in der Gegend von Bad Hall auf der Stör und nahm meinen Bruder Rudi und mich einfach mit. Wir gingen zu den Bauern, blieben dort oft länger als eine Woche bei einer Familie und zogen dann zur nächsten weiter. Wir lebten, aßen und schliefen dort, und meine Mutter bekam zusätzlich auch noch Lebensmittel. Während der Schulzeit versorgte uns der Vater zu Hause. So haben wir immer gut gelebt, auch in der Kriegszeit. Meine Firmpatin kam ebenfalls aus Bad Hall. Sie hatte mit ihrem Mann, einem guten Kerl, eine Mühle. Bis heute bin ich mit ihnen in Verbindung. Sie schenkte mir nichts zur Firmung, aber dafür war ich oft dort, besonders in den Ferien. Ich kannte alle Bauern in der Umgebung.
  Ich wurde nicht bewußt religiös erzogen, denn mein Vater war Freidenker und aus der Kirche ausgetreten. Meine Mama war aber gläubig, und ich war als Kind sehr religiös. Ich ging regelmäßig in die Kirche und zur Kommunion. Obwohl ich eine durchschnittliche Schülerin war, machte mir die Schule viel Spaß. Die Volksschule habe ich in Garsten besucht, dann übersiedelten wir nach Steyr, weil mein Vater in den Steyr-Werken zu arbeiten anfing. Wir wohnten auf der Promenade, direkt beim Schloßpark. Das war sehr schön, wir hatten drei Zimmer, eine Küche und zwei Schlafzimmer.
  Ich erinnere mich, daß in der Bürgerschule in Steyr einige Lehrerinnen gegen mich waren, aber ich ließ mir nichts gefallen. Wir bildeten eine Art ”Konsortium”, ich war mitten drin, oft die Anführerin, und sagte den Lehrern die Meinung, was ihnen nicht immer gefiel. Vielleicht habe ich das vom Vater, der auch überall tonangebend war.
  In der Freizeit spielte ich Zither, und wir wanderten auch gerne. Meine Eltern hatten manchmal Gesellschaften und dann mußten mein Bruder Rudi und ich immer vorsingen. Oft wanderten wir auf den Damberg und wenn wir in einem Gasthaus eine Pause einlegten, sangen wir. Wir waren direkt berühmt, so schön haben wir gesungen. Von den Kinderfreunden kannte ich damals Hunderte von Liedern. Ich denke sehr gerne an diese Zeit zurück, die Gemeinschaft war das Schönste. Ich blieb lange bei den Kinderfreunden, 1927 lernte ich dort meinen Mann Karl kennen, ich war gerade siebzehn Jahre alt. Er war sechs Jahre älter als ich und hatte sieben Brüder, die alle Sozialdemokraten waren. Karl wurde in Wien geboren und wuchs in Waidhofen an der Ybbs auf. Dort betrieb sein Vater, ebenfalls ein eingefleischter Sozialdemokrat, eine Mechanikerwerkstätte. Er sammelte das "Tagblatt", ganze Schachteln voll, die er am Dachboden lagerte.
  Karl war meine große Liebe, aber er mußte um mich kämpfen, weil er nicht der einzige Bewerber war. Ich wurde schwanger, aber ich wollte kein Kind, weil wir arm waren und kein Geld hatten. Auch die Familie meines Mannes, die damals in einer Baracke im Wehrgraben wohnte, lebte in bitterer Armut. Ich war verzweifelt und unternahm alles mögliche gegen dieses ungewollte Ereignis. Plötzlich, im vierten Schwangerschaftsmonat, hatte ich einen Abortus. Ich lag im Spital, und Karl besuchte mich nicht einmal, weil er ständig unterwegs war. Meiner Mama erzählte ich nichts davon, aus lauter Angst und schlechtem Gewissen. Ich zog sogar von zu Hause aus, in ein verwanztes Zimmer im Eysnfeld. Als ich es dort nicht mehr aushielt, beichtete ich ihr die Sache und kam wieder zurück. Ich hatte Schuldgefühle, aber ich wurde dadurch reifer und lernte daraus.
  Damals gab es eine große Arbeitslosigkeit und Armut. Für mich war es insofern erträglich, weil meine Mutter bei den Bauern schneiderte. Ich besuchte die dreijährige Gewerbeschule; auch ich sollte Schneiderin werden. Später war ich ungefähr zwei Jahre beim damaligen Direktor der Steyr-Werke als Kindermädchen beschäftigt. Er lebte in der Wasservilla. Dort habe ich sehr viel gelernt, weil oft ausländische Gäste zu Besuch kamen. Ich erinnere mich noch an wunderschöne Musikabende, die man veranstaltete.
  Eigentlich wollte ich gerne Krankenschwester werden. Eine meiner Tanten lebte in Wien und arbeitete im Wilheminenspital. Also fuhr ich zu ihr. Da ich noch nicht achtzehn Jahre alt war, konnte ich nicht in die Schwesternschule gehen, also suchte ich mir eine Arbeit als Stubenmädchen. Eine jüdische Familie stellte mich an, das war sehr interessant, weil ich einiges über ihre Lebensweise und ihre Feste erfuhr. Karl schrieb mir jeden Tag einen rekommandierten Brief. Dadurch bekam ich solches Heimweh, daß ich meiner Mutter mitteilte, ich würde die Schwesternschule doch nicht besuchen.
   
  Russisches Intermezzo
   
  1929, im Jahr der Weltwirtschaftskrise, wurde Karl arbeitslos. Zu dieser Zeit suchte man in der Sowjetunion Spezialarbeiter. Weil Karl ein erstklassiger Dreher war, schloß er einen Vertrag ab, und wir fuhren 1930 gemeinsam nach Pensa, einer kleinen Stadt in der Nähe von Moskau. Viele gingen damals wegen der großen Arbeitslosigkeit nach Rußland. Nach einer sehr langen Zugfahrt wurden wir zuerst in einem Hotel untergebracht, später mieteten wir uns eine Wohnung. Wir hatten kaum Möbel, es war alles sehr primitiv. Zuerst richteten wir uns mit Schachteln ein, und unsere Kleidung hängten wir auf Nägel. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie schlecht die Russen damals lebten. Wir Ausländer hatten es besser, wir konnten in einem eigenen Geschäft, der INSNAB, einkaufen. Während Karl im Kugellagerwerk arbeitete, führte ich den Haushalt. Innerhalb kurzer Zeit lernten wir Russisch. Wenn man jung ist, lernt man leicht!
  Trotzdem gab es damals in der Sowjetunion eine Aufbruchstimmung. Die Russen waren sehr gastfreundlich, und wir wurden oft eingeladen. Als unser Vertrag auslief,  kehrten wir nach einem Jahr wieder nach Österreich zurück. Ich war froh, wieder meine Heimat zu sehen, weil ich Sehnsucht  nach den Bergen hatte.
  In Steyr herrschte Anfang der dreißiger Jahre große Not. Ich wohnte wieder bei meinen Eltern, Karl bei seiner Mutter. Zuerst war er arbeitslos, dann bekam er gleich wieder Arbeit als Dreher im Kugellagerwerk bei einem Meister, der ihn sehr schätzte. Er betrieb sehr viel Sport und war politisch sehr aktiv, sodaß ich ihn selten sah. Wenn ich bei ihm sein wollte, mußte ich mit ihm mitfahren. Durch ihn lernte ich Schifahren, Kajak paddeln, Eislaufen und Klettern. Ich teilte seine Ansichten, weil ich ihn gern hatte.
   
  Februarrevolte in Steyr
   
  Vor dem Februarkampf 1934 war die Stimmung schrecklich. Obwohl Steyr eine rote Stadt war, marschierten die Hahnenschwänzler, wie wir die Heimwehrler nannten, mit aufgepflanztem Bajonett durch die Stadt.
  Am 12. Februar 1934 begannen die Kämpfe in Linz, dann auch in Steyr. Von Karls Familie waren vier Brüder dabei. Ich war 24 Jahre alt und wußte, daß Karl als Schutzbündler mit seinen Freunden auf der Ennsleite postiert war. Er war als Maschinengewehrschütze eingesetzt. Ich hörte die Schießereien und zitterte um ihn. Wir glaubten nicht, daß wir verlieren würden. Als nach ein paar Tagen die Niederlage für die Schutzbündler perfekt war, waren wir sehr niedergeschlagen - es war eine Katastrophe. Ich weiß, daß einige erschossen wurden, Ahrer wurde in der Berggasse aufgehängt.
  Neben dem Gefängnis wohnte meine Freundin, die Danner Hansi. Dadurch bekam ich alles mit. Eigruber, der blöde Hund, wohnte auch dort. Mit dem redete ich manchmal, ich wußte natürlich, daß er ein Nazi war.
  Nach dem verlorenen Kampf flüchtete Karl. Mitten im Februar schwamm er durch die Steyr, um von der Polizei nicht erwischt zu werden. Sein bester Freund versteckte ihn dann eine Woche auf dem Dachboden. Es gab Gerüchte, daß die Hübsch-Brüder in Linz umgebracht werden sollten. Karls Brüder, der Heini und der Fritz, waren in der Berggasse eingesperrt. Schließlich gelang es Karl, sich mit einem Freund nach Wien abzusetzen, wo ihm sein Bruder Pepperl, der ihm sehr ähnlich sah, seinen Paß gab. Pepperls Frau begleitete ihn mit der Bahn nach Brünn in der Tschechei. Dort hielt er sich von Februar bis Mai bei Freunden auf, dann fuhr er mit anderen Schutzbündlern nach Moskau, wo man ihn gleich als Dreher in einem Kugellagerwerk aufnahm und zum Abteilungsmeister machte.
  Er schrieb mir viele Briefe, und wir telefonierten auch manchmal miteinander. Er meinte, ich könnte nachkommen. Ich wollte sowieso nicht mehr in Steyr bleiben, die Arbeiter wurden verfolgt, die Sozialdemokratie war verboten. Meine Eltern waren nicht begeistert, daß ich nach Moskau fahren wollte, und es war auch sehr kompliziert, ein Visum zu bekommen. Doch im November 1934 klappte es.
   
  Sowjetunion – zwischen Angst und Bewunderung
   
  Wieder reiste ich mit der Bahn nach Moskau. Dort holten mich die Schutzbündler vom Bahnhof ab. Zuerst wohnten Karl und ich wie die meisten anderen im Hotel „Sowjetskaja“. Ich bekam eine Anstellung in einer Bibliothek, meine Aufgabe war es, Bücher zu katalogisieren.
  Das Leben in Rußland war ganz anders als bei uns, viel rückschrittlicher, aber für die Arbeiter wurde sehr viel getan. Langsam verbesserten sich ihre Lebensbedingungen. In Österreich waren wir verfolgt, dort waren wir frei. Als Karl in der Sowjetunion die sozialen Einrichtungen sah, entschloß er sich, Kommunist zu werden. Ich arbeitete beispielsweise nur sechs Stunden am Tag, und durch Karl beeinflußt, trat auch ich der Kommunistischen Partei bei. Trotzdem war das tägliche Leben ziemlich schwer zu bewältigen. Die russischen Freunde luden uns oft ein, dann bogen sich die Tische - sie selbst hatten nur Schwarzbrot und Tee. Durch den Kontakt mit den Russen verbesserten sich unsere Sprachkenntnisse rasch. Das war auch für meine Arbeit in der Bibliothek ganz gut. Offensichtlich gab es auch Neid, Mißgunst und Konkurrenz zwischen unseren Leuten und den Russen; vielleicht hat man meinen Mann deswegen  - er war ja ein „Stachanov-Arbeiter“ – verhaftet.
  Nach der Arbeit besuchte ich die Arbeiterhochschule. Mein Mathematiklehrer war recht verliebt in mich, er half mir beim Lernen und begleitete mich oft heim. So kam ich erst gegen elf Uhr nachts nach Hause, und dann hatte ich noch den Haushalt zu erledigen. Das war sehr anstrengend, weil ich ja tagsüber arbeitete, und die Schule weit entfernt war.
  Auch die Männer mußten die Geschichte des Kommunismus lernen und Politkurse besuchen. Durch den Schichtbetrieb sahen Karl und ich uns selten, das war nicht sehr familienfreundlich. Nach der Zeit im Hotel „Sowjetskaja“ übersiedelten wir in eine Fabrikswohnung im Kugellagerwerk. Wir teilten diese Gemeinschaftswohnung mit zwei anderen Familien, einer niederösterreichischen und einer russischen. Jede Familie hatte einen eigenen Wohnraum, Küche und Bad benutzte man gemeinsam. Später zogen wir ins Schutzbundhaus im Zentrum, wo wir Schutzbündler unter uns waren. Das war für mich vorteilhaft, da sich die Bibliothek im Zentrum befand. Auch hier lebten mehrere Familien in einer Wohnung. Natürlich hatten wir viele Kontakte mit den anderen Schutzbündlern und mit Funktionären vom österreichischen ZK.
  Eines der schönsten Erlebnisse war ein Urlaub im Kaukasus.  Karl war drei Monate dort als Sportinstruktor tätig, und ich hatte mir einen Monat freigenommen, um ihn zu besuchen. Wir unternahmen sehr schöne Klettertouren. Mein größtes Erlebnis war natürlich die Besteigung des Elbrus, dem ”König” des Kaukasus. Wir begannen den Aufstieg um elf Uhr nachts bei klirrender Kälte (- 30o) und erreichten am nächsten Tag zur Mittagszeit den Gipfel des 5.660 Meter hohen Berges. Die Aussicht war überwältigend, tiefblauer Himmel über vier- bis fünftausend Meter hohen Bergen.
  Als wir nach Moskau zurückkamen, waren die Säuberungen unter Stalin schon in vollem Gange. Wir lebten nur mehr in Angst und fanden keine Erklärung für die Verhaftungswelle. Es war eine furchtbare Zeit. Jede Nacht wurde jemand anderer verhaftet. Immer warteten wir darauf, daß sie auch meinen Mann abholten. Das zog sich über Monate. Angst und Schrecken waren unsere ständigen Begleiter, wir schliefen sehr schlecht.
  Eines Nachts im Februar 1938 kamen sie: zwei Männer und eine Frau vom NKWD.  Wir wußten sofort, was sie wollten. Ich war hochschwanger und zitterte vor Angst und Verzweiflung. Aber was konnte ich tun, sie führten ihn ab. Ich begriff es nicht, ich war wie vor den Kopf gestoßen. Vor meinem Mann waren schon viele andere Schutzbündler, auch Steyrer, festgenommen worden. Irgendeine nichtssagende Bemerkung über Goebbels war angeblich die Ursache für die Denunziation durch einen russischen Arbeitskollegen. Die Anklage lautete auf Hochverrat.
  Es gab immer wieder jemanden, der aus der Haft zurückkam, trotzdem war ich in großer Sorge um Karl. Wir Österreicher sprachen zwar miteinander, aber wir wußten uns nicht zu helfen. Ich setzte mich mit dem ZK in Verbindung, und mein Schwager, der Pepperl, intervenierte ständig von Österreich aus in Berlin bei der sowjetischen Botschaft, um Karl wieder nach Österreich zurückzuholen. Ich versuchte, beim Minister Kalinin vorzusprechen, wurde aber abgewiesen. Ich wollte wissen, warum und wo Karl eingesperrt war. Noch dazu war ich im 7. Monat schwanger. In dieser Zeit weinte ich viel. Die Schutzbündler kümmerten sich um mich. Ich arbeitete noch immer und wollte nicht wegfahren, um in Karls Nähe zu bleiben. Aber gegen die russische Macht hatte man keine Chance. Alles war so undurchschaubar!
  Am 31. März 1938 wurde ich aufgefordert, das Land zu verlassen, ich wurde ausgewiesen, weil ich keine russische Staatsbürgerin war. Natürlich empfand ich einen Haß auf die Regierung, weil man Karl verhaftet und mich ausgewiesen hatte. Aber ich konnte mit niemandem darüber reden und war am Boden zerstört. Trotzdem glaubte ich weiter an die Idee des Kommunismus, auch das Bild von Stalin blieb unverändert positiv. Für die Russen war er sowieso ein Gott. Rückblickend meine ich, daß wir schöne und auch schreckliche Dinge in Rußland erlebten, aber zum Schluß überwogen die furchtbaren Ereignisse.
  Es war ein entsetzliches Gefühl, allein nach Österreich zurückzufahren. Es war mir klar, daß ich auch hier verfolgt werden würde, weil ich aus Rußland kam. Ich war ja keine österreichische Staatsbürgerin mehr, man hatte mich 1934 ausgebürgert. Die neuerlich Einbürgerung habe ich mir später schwer erkaufen müssen.
   
  Ungewollte Rückkehr
   
  An der Grenze wurde ich gleich von einem SA-Mann verhaftet und nach Wien gebracht, wo ich im Gestapo-Hauptquartier ”Hotel Metropol” drei Tage lang ununterbrochen verhört wurde. Man wollte die Namen von den in Rußland lebenden Schutzbündlern wissen. Ich wurde nicht geschlagen, und obwohl sie mich den ganzen Tag bearbeiteten, gab ich keine Namen preis. Mein Zustand war entsetzlich, Gott sei Dank setzten dann die Wehen ein. Im Kinderspital im 9. Bezirk kam mein Sohn Karli zu früh auf die Welt. Er wog nur 1,85 Kilogramm und wurde von den Schwestern gehegt und gepflegt. Ich blieb drei Monate im Spital, und die Nazis verhörten mich auch dort.
  Gelegentlich bekam ich Ausgang, dann ging ich mit meinem Schwager, einem Kapitän bei der DDSG, tanzen. Mein Sohn lag auf der Frühgeburtenstation, ich bekam ihn nicht oft zu Gesicht. Nach drei Monaten forderte mich meine Mutter auf, heimzukommen. Ich unterschrieb einen Revers und fuhr mit meinem Sohn nach Steyr, wo ich wieder bei meinen Eltern wohnte. Ich war glücklich, wieder bei ihnen und meinen alten Freunden zu sein, mußte mich aber regelmäßig bei der Gestapo melden. Nach einigen Monaten, im Juni 1938, als ich etwas zur Ruhe gekommen und selbstsicherer geworden war, fand ich nach einer Aufnahmeprüfung wieder eine Beschäftigung in den Steyr-Werken. Den kleinen Karli brachte ich täglich mit dem Rad auf den Wieserfeldplatz zu den Schwestern in die Kinderbewahranstalt. Dann fuhr ich ins Büro.
  1939 um die Weihnachtszeit tauchte plötzlich mein Mann Karl auf. Ich hatte immer auf ihn gewartet und oft nicht aus und ein gewußt. Trotzdem war ich überzeugt, daß schließlich die Gerechtigkeit siegen und Karl aus der Haft entlassen würde. Fast zwei lange Jahre hatte ich nichts von ihm gehört! Es war Abend, und wegen der Luftangriffe mußten wir verdunkeln. Plötzlich klopfte jemand ans Fenster, und es durchfuhr mich wie ein Blitz! Ich sagte zu Raimund, einem Bergfreund, der gerade bei mir auf Besuch war: ”Das ist der Karl!” Ich öffnete, und der Erlach Franz war vor der Tür. Er hatte Karl in St. Valentin aufgelesen und nach Steyr gebracht. Dann sah ich den Karl: Er war ganz verändert, gezeichnet. Mit Stehfrisur und Wattemantel stand er vor mir. Es war schrecklich! Stundenlang starrte er gerührt in das Gitterbett unseres zweijährigen Sohnes Karli und sagte kein Wort. Auch mir fehlten die Worte. Karl war tagelang nicht ansprechbar. Das war eine schwierige Zeit. Auch später erzählte er wenig, weil er mich nicht belasten wollte. Nur seinem Bruder Willi gestand er, daß er mißhandelt und geschlagen worden war. Er war auf dem Betonboden gelegen und hatte nur schwarzen Kaffee und Rüben zu essen gekriegt, sonst nichts. Er war ständig verhört worden, um Informationen über die anderen Schutzbündler preizugeben. Er war gemeinsam mit Chinesen, Russen und Japanern eingesperrt und sie hatten sich aus Brot Schachfiguren gebastelt und damit gespielt. Immer hatte er die Hoffnung gehabt, freizukommen, denn er war sich keiner Schuld bewußt.
  In Steyr wurde er andauernd beobachtet und mußte sich regelmäßig bei der Gestapo melden. Er bekam bald Arbeit; sein Meister im Kugellagerwerk kannte ihn als guten Dreher und nahm ihn wieder auf. Später wurde das Werk nach Loosdorf bei Melk verlagert, dadurch wurde auch Karl in dieses unterirdische Werk versetzt. Er kam selten heim. Auch ich arbeitete damals in den Steyr-Werken und hatte dort Kontakt mit Zwangsarbeitern. Karl unterstütze sie immer, denn es waren viele Polen, Tschechen und Russen dabei, mit denen er sich verständigen konnte.
  Natürlich wußten wir auch vom KZ in Münichholz. Mein Mann traf sich oft heimlich mit seinen Freunden und organisierte mit ihnen den Widerstand im Bezirk Steyr. Genaueres weiß ich nicht darüber, weil er mich nicht einweihte. Ich riet ihm immer zur Vorsicht, aber er ließ sich nichts dreinreden. Die Gruppe war bei den Arbeitern sehr beliebt und anerkannt, Draber, Bloderer, Punzer und andere gehörten dazu. Selbstverständlich wurden sie bespitzelt, und man mußte schrecklich aufpassen. Die Spannung war sehr groß, man rechnete dauernd mit Verhaftungen, was dann ja auch geschah. Aber wenn man jung ist, erträgt man viel.
  Bestimmte Leute, auch Sozialdemokraten, waren zu den Nazis übergelaufen. Hier in Münichholz gab es welche, die die Kommunisten schikanierten und eine große Bedrohung für uns waren. Am Anfang waren wir stark, aber aus Angst vor den Nazis sprangen viele ab.
  Damals wohnten wir in der Wagnerstraße in einer Steyr-Werke-Wohnung. Es gab Rationierungen, aber wie gesagt, die Mama war immer wieder auf Stör bei den Bauern, und so sind wir auch zu Lebensmitteln gekommen. Wir waren immer auf der Seite der Russen und des Kommunismus, und ich bewunderte meinen Mann, daß er trotz allem zu dieser Idee stand. Er war felsenfest überzeugt, daß es das Richtige war.
  Bei den Bombenangriffen flüchteten wir in die Luftschutzkeller. Gegen Kriegsende wurde ich in ein Dorf bei Bad Hall evakuiert. Karl blieb in unserer Wohnung in Münichholz, und so fuhr ich immer mit dem Rad von Bad Hall nach Steyr.
  Gegen Kriegsende wurden mein Mann und andere Freunde sechs Wochen eingesperrt. Ich erinnere mich, daß ich ihnen Butter brachte, die mir ein  Konditor gegeben hatte, weil die Häftlinge außer Brot und schwarzen Kaffee nichts bekamen. Die Aufseher waren uns Gott sei Dank wohlgesinnt. Anfang Mai, nach dem Eintreffen der amerikanischen Armee in Steyr, wurden Karl und die anderen freigelassen.
   
  Befreiung und Besatzung
   
  Unser Stadtteil Münichholz lag nach der Befreiung von den Nazis in der russischen Zone. Zuerst freuten wir uns darüber, aber dann waren wir von der Besatzung nicht begeistert. Bei der Auflösung des Konzentrationslagers in Münichholz wurde viel geplündert. Ich weiß noch, daß Häftlinge in Sträflingskleidern über ein Kaufhaus herfielen. Die Leute fürchteten sich vor ihnen, weil sie wie rasende Horden waren und natürlich großen Haß hatten. Ein deutscher KZ-Häftling, der voller Eiterbeulen war, wohnte wochenlang bei uns.
  Karl hatte zu den russischen Besatzern Kontakt und bekam einen Ausweis, mit dem er überall durchkam. Er konnte vieles mit ihnen regeln. Damals gab es in der russischen Zone, in Steyr-Ost, ein eigenes Gemeindeamt. Mein Mann war Gemeinderat und Sekretär des damaligen Bürgermeisters Hans Kahlig.
  Vieles von dem, was man über die Russen erzählte, stimmt meiner Meinung nach nicht. Natürlich gab es Vergewaltigungen, besonders am Land. Auch Plünderungen und Beschlagnahmungen waren an der Tagesordnung. Da spielten bei den Russen sicher Rachegefühle eine Rolle. Wir hatten eine Sonderstellung, weil wir Russisch konnten. Als man mir einmal mein Radio wegnehmen wollte, verteidigte ich mich auf Russisch, da waren die ganz perplex und zogen ab.
  1945 hatte ich in den Steyr-Werken gekündigt und war dann eine Zeitlang arbeitslos, bis man mich in Amstetten im Sekretariat der Kommunistischen Partei anstellte. Jeden Tag fuhr ich mit dem Zug von Steyr nach Amstetten. Ich machte alles, sogar putzen. In dieser Zeit waren wir viel unterwegs.
  Noch während der Besatzung knüpften wir freundschaftliche Beziehungen zu Russen, und Karl ging mit ihnen manchmal fischen. Er war überall sehr beliebt. Immer kämpfte er für die anderen, nie für sich selbst, er war ein besonderer Mensch. Bis 1950 war er im Kugellagerwerk beschäftigt, beim großen Oktoberstreik wurde er wegen seiner Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei und seines Eintretens für die Kollegenschaft entlassen. Ein USIA-Betrieb in Kindberg-Gaming stellte ihn ein, und er arbeitete dort sechs Jahre als Personalchef.
   
  Über Wien zurück nach Steyr
   
  Zur Zeit des Staatsvertrages wurde mein Mann in Kindberg-Gaming entlassen. Er fand in Wien Arbeit und blieb dort zwei Jahre. Ich arbeitete in der Botschaft der DDR als Telefonistin. Dieses Land war eine große Hoffnung für uns, und wir hatten zu einigen DDR-Führern, wie Walter Ulbricht, den wir seit Moskau kannten, und zu Erich Honecker, der einmal bei uns in Steyr war, Kontakt.
  Damals wurde unsere Steyr-Werke-Wohnung wegen des Oktoberstreiks gekündigt. Wir prozessierten zwei Jahre lang und bekamen unser Recht, es war ein Präzedenzfall.
  1957 kehrten wir endgültig wieder nach Steyr zurück. Mein Mann war noch zehn Jahre lang als Meister in einer Maschinenbaufirma beschäftigt. Ich schlug mich mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten, bevor ich 1961 als Sekretärin bei der KPÖ Steyr aufgenommen wurde.
  Ich habe sehr viel geleistet, aber heute ist mir alles egal. Mich ärgert die derzeitige Politik, besonders die Versprechungen, die nicht gehalten werden. Politisch war ich selbst nie so interessiert, nur durch meinen Mann kam ich dazu. Trotzdem war ich sehr engagiert.
  Wir fuhren immer wieder nach Rußland auf Urlaub und korrespondierten mit unseren Freunden. 1961 ging mein Mann in den Ruhestand. Ich war noch bis zu meinem 75. Lebensjahr als Sekretärin bei der KPÖ beschäftigt.
  Nach einem Gehirnschlag konnte Karl nicht mehr sprechen. 1989 starb er im Krankenhaus. Ich möchte die Zeit mit ihm nicht missen, es waren viele schöne, aber auch viele schwere Erfahrungen dabei. Mein Mann war so ein guter Arbeiter und überall tonangebend. Das habe ich sehr bewundert.
  Heute bin ich sehr einsam, das Leben hat keinen Wert mehr. Niemand hat Zeit für mich. Was sollen die Leute schon mit einer alten Frau anfangen?
  Ich würde mich heute nicht mehr für eine Partei so stark engagieren. Die Ideale der Kommunistischen Partei waren mir sehr wichtig, aber wer kann wirklich sagen, ob sie richtig sind?  Früher haben die Menschen Kraft dazu gehabt, aber jetzt denkt jeder nur an sich. Die Leute sind heute so desinteressiert.
   
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  Das Interview mit Käthe Hübsch wurde im Mai und Juni 1997 geführt.
   
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