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5. Der Rezipient und das soziale Kunstwerk Angerbauers im Vergleich mit Joseph Beuys
 
5.1. Der "Erweiterte Kunstbegriff" bei Beuys
 
Ein zentrales Anliegen der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ist, diese nicht als eine illusionistisch abgehobene Scheinwelt darzustellen, sondern sie dem Leben als einen bis zur Identität angenäherten Prozeß erscheinen zu lassen. "Der kreative Akt soll nicht länger dem Künstler allein vorbehalten bleiben." (113)
 
Daß Kunst ein sozialer Prozeß ist, ist durch Joseph Beuys‘ "Erweiterten Kunstbegriff" entstanden. Angerbauer wurde durch diesen "Erweiterten Kunstbegriff" und des damit einhergehenden gewandelten Materialbegriffs inspiriert.
 
Durch die Verwendung "neuer" Materialien, wie Fett, Filz und Wachs, revolutionierte Beuys den Kunstbegriff, der damit einen neuen Inhalt erhält. Sie stehen als Ausdruck philosophischer Erkenntnisse, physischer Energien und Kräfte. So wie die von Beuys verwendeten Materialien seit Urzeiten vom Menschen organisch verwendet worden sind, so können sie auch auf geistige Zustände übertragen werden. Fett ist Energielieferant, das sowohl im warmen wie auch im flüssigen Zustand aktiv ist. Filz ist das isolierende Element, ein formbares Material, das sich wie Fett in Raum und Zeit wieder verformt. Das Wachs bringt Beuys mit dem Organismus des Bienenstaates in Verbindung. Der Nektar der Blumen, durch die Sonnenenergie entstanden, von den Bienen entnommen, in ihren Waben zu Wachs verarbeitet und in flüssigen Honig verwandelt, dient in dieser Endform wieder als lebensspendende Energie Honig. (114) Die verwendeten Materialien weisen auf bestimmte Zustände und Wahrnehmungen des menschlichen Geistes und Seins hin.
 
"Jeder Mensch ist ein Künstler". Dieser viel zitierte und oft mißverstandene Satz ist im Zusammenhang mit dem "Erweiterten Kunstbegriff" zu sehen, der den Hintergrund von Beuys‘ Gesamtwerk bildet. Nur durch diese beiden Begriffsbildungen sind seine sozialen Aktivitäten zu verstehen.
 
Mit dieser neuen Begriffsprägung hat keine künstlerische Stilerneuerung, sondern vielmehr eine übergreifende Sinnrevolution stattgefunden. Beuys beabsichtigte eine Bewußtseinserweiterung. "(Er wollte) (...) einen Bewußtseinsprozeß in Gang (...) bringen, der den Betrachter aus eigener Kraft in die Ideenzusammenhänge eines grundlegend neuen Weltverständnisses hineinführt."(115) Beuys äußerte selbst über den Erkenntniswert von Kunstwerken "Kunst ist nicht dazu da, daß man Erlebnisse auf direktem Weg gewinnt, sondern vertiefte Erkenntnisse über das Erleben herstellt." (116)
 
Der Mensch steht nun im Mittelpunkt aller Überlegungen. Beuys sieht als Ursache der globalen Weltproblematik die Mangelhaftigkeit der menschlichen Kreativität, die er als erweiterungsfähig und -bedürftig ansieht. "Dabei sieht er die Kunst als eng mit der Erkenntniskraft zusammenhängend: Der Gedanke ist das erste Produkt menschlicher Kreativität."(117)
 
So wie Angerbauer die Forderung an seinen Rezipienten stellt, daß dieser als denkender, fühlender und erlebender Mensch sich in sein Kunstumfeld integriert, so läßt sich auch im Werk Beuys eine Bewußtseinswandlung und Bewußtseinserweiterung nachvollziehen, ein "bewußtes, gedankliches Durchdringen von Mensch und Welt mit größter Präzision." (118) Beuys sieht den gesamtgesellschaftlichen Bereich, die Wirtschaft, die Ökologie und die soziale Problematik als das Thema der Kunst an.
 
Somit wird der Arbeitsprozeß in die Öffentlichkeit getragen. Kunst und Künstler ändern nun ihre Rolle. Die Kunst ist nicht mehr "individuelle Werkkunst"(119), sondern "Interventionskunst.(120)" Diese Forderung nach Öffentlichkeit geht einher mit dem Ruf nach neuen künstlerischen Inhalten, Formen, ästhetischen Werten, Bewußtseinserweiterung und nach einer neuen denkenden Gesellschaft. Die Künstler appellieren an die geistige und physische Aufnahmebereitschaft der Rezipienten und schaffen dabei Situationen, Modelle und Irritationen, die Denkanstöße auslösen sollen.
 
"Damit ist der Rezipient aufgefordert, sich mit den angesprochenen Problemkreisen zu identifizieren, denn darin liegt der Ansatz für ein Überdenken und Tätigwerden im Sinne einer Verbesserung der Lebensqualität."(121)
 
Das Projekt Beuys "7.000 Eichen" in Kassel als Ausgangspunkt für den "Erweiterten Kunstbegriff" verdeutlicht, daß Beuys nicht alleiniger Ausführender dieses Konzeptes war, sondern zu einem großen Teil die Menschen, die daran beteiligt waren und die ebenfalls diese Notwendigkeit und Erneuerung für wichtig hielten. Darüber hinaus entstand ein "FIU-Koordinationsbüro 7.000 Eichen" mit zehn festen Mitarbeitern, die die Verantwortung für dieses jahrelange Projekt hatten. Der Künstler hat somit seine Autorität über das Werk abgegeben.
 
 
 
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4.4.6.5. Werkbeschreibung T.A.05098 "Kristalltag"  < Zurück                    
 
(113) Schilling, Jürgen 1978, S. 7.
(114) Mildner, Ursula 1989, S. 79
(115) Meyer, Frank 1989, S.96
(116) Beuys, Joseph (zit. in Meyer, Frank 1989, S.95)
(117) Borstel, Stephan 1989, S. 7.
(118) Mildner, Ursula 1989, S. 80
(119) Heintel, Peter 1998, S. 17
(120) ebd.
(121) Schilling, Jürgen 1978, S. 8